Kinder trauern anders

Jeder Todesfall ruft tiefe Gefühle in ihnen hervor - oft auch widersprüchliche.

Wenn Oma oder Opa, ein Geschwisterkind oder Elternteil sterben, gerät die Welt eines Kindes aus den Fugen. Kinder trauern anders als Erwachsene. Ihre Trauer kann viele Gesichter haben. Weinen oder lachen, albern oder aggressiv sein: Solche oft widersprüchlichen Gefühle sind typische Zeichen für die innere Unsicherheit und Zerrissenheit trauernder Kinder.

Wenn Kinder die Notbremse ziehen

"Manche Kinder lassen Trauer nicht zu. Sie wollen den Tod des lieben Angehörigen einfach nicht wahrhaben und lassen das, was geschah, noch nicht an sich herankommen", sagt die Freiburger Diplom-Psychologin Gertraud Finger. Bei jedem Todesfall werden Menschen mit tiefen Gefühlen konfrontiert. Kinder haben sie in dieser Form noch nicht kennen gelernt. Das macht ängstlich und unsicher. "Die Trauerverweigerung ist wie eine Notbremse. Kinder bremsen die Not, in die sie geraten sind, ab, um nicht davon überrollt zu werden", beschreibt Gertraud Finger dieses Verhalten.

Die Kleinen brauchen einfach noch Zeit, das Unfassbare zu verstehen. So kann es sein, dass sie ihre Umgebung schockieren, indem sie lachen und albern sind. "Eltern sollten ihrem Kind keinesfalls Vorwürfe machen, sondern dessen Abwehr und Verweigerung zulassen", rät die Psychologin. "Aber sie dürfen nicht dabei stehen bleiben, sondern müssen gleichzeitig eine Tür öffnen, damit das Kind wieder aus der Abwehr heraus findet. Denn eine länger andauernde Trauerverweigerung kann sich sehr ungünstig auf die gesamte Entwicklung des Kindes auswirken."

Sie empfiehlt Eltern und anderen erwachsenen Familienangehörigen in solchen Fällen, öfter an das verstorbene Familienmitglied zu erinnern: "Wenn Eltern, Großeltern oder andere nahe stehende Menschen mit dem Kind zum Friedhof gehen, Fotos anschauen und Geschichten aus dem Leben des Verstorbenen erzählen, zeigen sie ihm, dass man darüber sprechen kann und darf. Das Kind fühlt sich dann nicht mehr so allein und kann es wagen, seinen Kummer zuzulassen und ihm Ausdruck zu verleihen."

Wut auf den Verstorbenen

Abwehr und Verweigerung sind typisch für die erste Phase der Trauer. Dies gilt für Kinder und Erwachsene. Im Anschluss daran kommt es oft zu Gefühlsausbrüchen – Weinen und Wut. "Kinder werden noch stärker aufgewühlt als Erwachsene", sagt Gertraud Finger. "Sie können noch weniger verstehen und haben noch weniger Möglichkeiten, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Ihren seelischen Kummer drücken sie schließlich in auffälligem Verhalten aus. Sie schreien andere an, weinen, treten oder schlagen Türen. Zuweilen sind sie regelrecht wütend auf den verstorbenen Familienangehörigen. Mit dieser Wut wird ein Schuldiger für den eigenen Kummer gesucht. Wenn zum Beispiel ein vierjähriger Junge nach dem Tod des Großvaters schimpft: ‚Der Opa ist blöd!’ steht dahinter die Verzweiflung, dass der Opa ihn verlassen hat. Der Junge weiß nicht, wohin mit seiner Enttäuschung. Wenn er jetzt den Opa beschimpft, kann er eher verkraften, dass der Großvater nicht mehr da ist. Mit seiner Wut schützt er sich vor der Sehnsucht, den Opa wieder zu sehen."

Wichtig: Kinder sollen erfahren, dass alle Gefühle, auch Wut und Aggressivität, ihre Berechtigung haben. "Es gibt in dieser Zeit keine richtigen oder falschen Gefühle", sagt die Psychologin. "Trauer lässt sich nicht reglementieren. Und jede Aufforderung wie ‚Nicht weinen!’ oder ‚Nicht lachen!’ oder ‚Nicht wütend sein!’ behindert das Kind darin, seine eigenen Gefühle auszuleben. Trauer ist etwas ganz Persönliches. Und jedes Kind muss seinen Weg finden und tun, was für sein Temperament und seine Gefühlslage richtig ist."

Wenn die Welt einen Riss bekommt...

Andere Kinder möchten plötzlich wieder ganz klein sein. Sie fallen auf frühere Entwicklungsstufen zurück, sind ängstlich, möchten nicht mehr allein im Zimmer bleiben, trauen sich manches, was sie vorher konnten und gern taten, nicht mehr zu. "Sie brauchen ihre gesamte Energie für die Überwindung ihrer seelischen Probleme", erklärt Gertraud Finger. "Durch den Tod eines lieben Angehörigen hat die Welt des Kindes einen Riss bekommen. Es wird wieder ‚klein’ und braucht die Fürsorge seiner Umgebung nun ganz besonders. Eltern können ihrem Kind helfen, wenn sie ihm in der Zeit der Trauer so viel Sicherheit und Zuwendung wie möglich geben."

... und Kinder sich Vorwürfe machen

Typisch für das Vorschulalter ist die Phase des magischen Denkens. Und so glauben Kinder manchmal, den Tod eines Angehörigen verursacht zu haben. Vielleicht hat das Kind den Papa einmal weit weg gewünscht. Oder es wollte bei einem Streit, dass die große Schwester wie die Stiefmutter im Märchen tot umfällt. "Gefährlich werden solche magischen Vorstellungen erst, wenn sie dazu führen, dass das Kind sich selbst heimlich Vorwürfe macht", sagt Gertraud Finger. "Wenn Kinder Schuldgefühle zum Ausdruck bringen, ist es wichtig, diese nicht einfach als irrational wegzuwischen. Wer sich schuldig fühlt, sollte die Möglichkeit bekommen, darüber zu sprechen. Durch das Aussprechen werden die oft so unklaren Gefühle in Worte gefasst. Das Kind hört sich dabei selbst zu, und manchmal werden schon dadurch Schuldgefühle aufgelöst."

Auch für Eltern wird es leichter, dem Erleben des Kindes im Nachhinein eine andere Wende zu geben. Wenn es zum Beispiel glaubt, der Opa sei gestorben, weil es etwas Böses zu ihm gesagt hat, könnten die Eltern ihm erklären: "Deine bösen Worte haben nichts mit Großvaters Tod zu tun. Er hat das schon richtig verstanden, und er wusste auch, dass du ihn eigentlich lieb hast."

Doch es ist nicht immer so, dass sich Schuldgefühle auflösen. Kinder brauchen dann Wiedergutmachung und Versöhnung. "Sie könnten in Gedanken mit dem Verstorbenen sprechen, ihm ein Bild malen, einen Brief schreiben oder etwas aufs Grab legen", sagt Gertraud Finger. "Wichtig ist, dass dies von einem Erwachsenen begleitet wird und dass dieser zum Ausdruck bringt, dass nun alles wieder gut ist. Hier muss der begleitende Erwachsene stellvertretend für den Toten dem Kind das Gefühl der Schuld nehmen und die Versöhnung herbeiführen."

Niemand sieht Hannas Trauer

Zuweilen schlüpfen Kinder auch in die Rolle des Trösters, nämlich dann, wenn ihre Eltern selber tiefe Trauer empfinden. Gertraud Finger erzählt ein Beispiel: "Die kleine Schwester der zwölfjährigen Hanna stirbt an Krebs. Hanna sieht den Kummer der Eltern und möchte diese trösten, indem sie besonders brav ist. Sie geht nicht mehr in den Freundinnen aus, sondern bleibt zu Hause, um der Mutter zu helfen. Sie ist jetzt auffallend gehorsam, angepasst, aber auch traurig. Die Stimmung zu Hause ist gedrückt. Hanna wagt oft nicht, unbeschwert fröhlich oder albern zu sein, wenn ihre Freundinnen zu Besuch kommen. Sie würde das fast als Verrat an ihrer toten Schwester empfinden. Sie glaubt, für die traurige Stimmung der Eltern verantwortlich zu sein. So nimmt das Mädchen sich immer mehr zurück.

Niemand merkt, wie sehr sich Hanna verändert hat. Denn die Eltern sind innerlich mit ihrem verstorbenen Kind beschäftigt. Niemand weiß, wie es Hanna geht. Deshalb kann auch niemand sie unterstützen. Diese Last ist zu schwer für ein Kind. So wundert es nicht, dass Hanna niedergeschlagen ist und depressiv wirkt." Jungen und Mädchen wie Hanna brauchen dringend Hilfe. Doch die Eltern können sich ihren Kindern oft nicht so zuwenden, wie es nötig wäre. Sie sind ja selber tief traurig.

"Solche Familien brauchen dringend Verwandte, Paten, Freunde, die für die Kinder da sein können", sagt Gertraud Finger. "Jedes Kind, das einen schweren Verlust erlebt hat, braucht jemanden, der seine Trauer aushält, seine Fragen beantwortet oder ganz einfach für es da ist. Aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass Kinder Widerstandskräfte gegen gewisse äußere Belastungen haben oder entwickeln können. Dies gelingt ihnen umso besser, wenn ihnen eine Vertrauensperson außerhalb des engsten Familienkreises beisteht."

Margret Nußbaum